Patricia Hofmann • 10. Februar 2022
Welche und wie viele Hinweise auf (sexuelle) Übergriffe durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegen vor? In wie vielen Fällen liegen möglicherweise strafbare Handlungen vor? Haben die Verantwortlichen auf die Missbrauchsvorwürfe korrekt reagiert? Mit diesen und noch mehr Fragen befasst sich das knapp 1.900 Seiten schwere Münchner Missbrauchsgutachten. Es setzt sich mit sexuellen Missbrauchs(verdachts)fällen an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen durch Geistliche oder Bedienstete und der Reaktion der kirchlichen Verantwortlichen auseinander. Das Gutachten betrachtet dabei die mutmaßlichen und tatsächlichen Übergriffe in der Erzdiözese München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019.
Die Zahlen, die sich im Gutachten finden, sind erschreckend. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Geschädigten aus. Dabei betonen sie aber, dass die Dunkelziffer voraussichtlich wesentlich höher ist. Sieht man sich das Alter der Geschädigten bei der ersten Tatbegehung an, so überwiegt die Altersgruppe zwischen acht und 14 Jahren. Insbesondere bei den männlichen Geschädigten waren 59 Prozent der Geschädigten bei der ersten Tatbegehung unter 14 Jahren und somit unmündig und minderjährig. Teilweise liegen die Taten lange zurück. Damit stellt sich dann auch die Frage, ob eine Strafverfolgung rechtlich noch möglich ist. Wie sieht es also mit dem Thema Verjährung im Strafverfahren nach der österreichischen Rechtslage aus?
Vereinfacht gesagt bedeutet Verjährung, dass nach einer gewissen Zeitdauer der Täter für ein bestimmtes Delikt nicht mehr verfolgt beziehungsweise bestraft werden darf (§ 57 StGB).
Manch einer fragt sich vielleicht, warum es solche Bestimmungen überhaupt braucht. Gerade, wenn das Thema so aktuell wie beim vorliegenden Gutachten ist. Zwei Gründe werden in diesem Zusammenhang oft genannt: Einerseits wird als Argument vorgebracht, dass das Bedürfnis einer Strafe nach Ablauf einer gewissen Zeit schwindet, andererseits kann es nach einer gewissen Zeit schwieriger werden, eine Tat zu beweisen. Unabhängig davon, ob man diese Meinung teilt, um rechtlich einen gewissen Ausgleich zu finden, sieht das Gesetz Unterschiede bei den Verjährungsfristen zwischen leichten und schwereren Delikten vor als auch – unter gewissen Umständen – die Möglichkeit der Verlängerung der Verjährungsfrist (§ 58 StGB).
Die Verjährungsfristen werden nach der Schwere des Delikts abgestuft. Wenn die Handlung mit nicht mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe bedroht ist, beträgt die Verjährungsfrist ein Jahr. Die Verjährungsfristen steigen dann nach der Schwere des Delikts auf drei, fünf, zehn oder 20 Jahre. Bei besonders schweren Delikten ist eine Verjährung aber überhaupt ausgeschlossen – Mord ist dafür das Paradebeispiel. Wobei zu erwähnen ist, dass nach dem Ablauf einer Frist von 20 Jahren anstelle einer drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von zehn bis 20 Jahren tritt. Das bedeutet, dass in diesen Fällen der Täter zwar dennoch bestraft werden kann, allerdings bei einer Verurteilung eine geringere Freiheitsstrafe droht.
Die Verjährungsfrist beginnt, sobald die strafbare Handlung abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört. Bei Dauerdelikten wie der Freiheitsentziehung (§ 99 StGB) oder Stalking (§ 107a StGB) endet die Verjährung daher erst, wenn das Opfer freigelassen oder die beharrliche Verfolgung beendet wurde.
Anzumerken ist auch, dass die Zeit zwischen der erstmaligen Vernehmung des Beschuldigten und der rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens in die Verjährungsfrist nicht hineingerechnet wird. Auch die Zeit zwischen der Anordnung der Fahndung oder Festnahme und der rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens wird beispielsweise nicht eingerechnet. Das bedeutet, dass in diesem Zeitraum die Verjährung nicht eintritt – die Verjährungsfrist wird gehemmt. Die bloße Erstattung einer Anzeige durch das Opfer hat allerdings nicht die gleichen Folgen. Jedoch erlangen die Ermittlungsbehörden oftmals erst durch eine Anzeige des Opfers Kenntnis von der strafbaren Handlung und können damit die notwendigen Schritte setzen, um der Verjährung entgegenzuwirken.
Nun ergab das Münchner Missbrauchsgutachten, dass ein Großteil der Opfer zum Zeitpunkt der (ersten) Tatbegehung noch minderjährig war. Was ändert das bei der Verjährung?
Ist das Opfer zur Zeit der Tatbegehung noch minderjährig, so wird die Zeit bis zur Vollendung des 28. Lebensjahrs des Opfers in die Verjährungszeit nicht eingerechnet (§ 58 StPO). Dies gilt für Delikte, die sich gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung richten.
Zum Schutz von minderjährigen Opfern ist dies eine besonders wichtige gesetzliche Bestimmung. Die Realität zeigt, dass Täter oftmals versuchen, Minderjährige nach oder während einer Tat einzuschüchtern, sodass diese nicht oder erst viel später über Tathandlungen sprechen. Besonders junge Opfer können das Unrecht oft erst viel später verstehen oder verdrängen die Taten aufgrund des Traumas. So kommt es in nicht wenigen Fällen vor, dass minderjährige Opfer erst als Erwachsene über das Geschehene sprechen und Anzeige erstatten können. Durch die Verlängerung der Verjährungsfrist besteht somit die Möglichkeit, Straftaten auch noch nach längerer Zeit aufzuklären, sodass die (damals) minderjährigen Opfern zu ihrem Recht gelangen.
Den Opfern geht es aber oft nicht nur um die strafrechtliche Verfolgung der Fälle, sondern leiden diese insbesondere auch an Vertuschungen und fehlender Reue von Tätern und Verantwortlichen. Eine Aufklärung der Missbrauchs(verdachts)fälle ist daher sowohl aus strafrechtlicher Sicht als auch für die Aufarbeitung der Opfer und aus präventiven Gründen essenziell.
Dieser Artikel ist bei derStandard.at bereits am 8.2.2022 im Gastblog "Mit Recht gegen Gewalt" von Patricia Hofmann erschienen.
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