Patricia Hofmann • 24. Januar 2025
Um die Situation und Gedanken von Opfern etwas besser nachvollziehbar zu machen, nennen wir unsere Protagonistin für diesen Beitrag Mara. Mara repräsentiert verschiedene Situationen betroffener Opfer, die ich selbst vertreten habe, und soll Einblicke geben, wie Opfer insbesondere Fragen zu einem sexualisierten Übergriff empfinden.
Meine Aussage ist wichtig
Mara ist Opfer eines Sexualdelikts. Eine Vielzahl von strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung sind Vier-Augen-Delikte. Heißt: Es gibt die Aussagen des Opfers und des möglichen Täters, aber keine Zeugen.
Für die strafrechtliche Beurteilung ist es notwendig, dass das Opfer schildert, was passiert ist, und dies oftmals auch im Detail, da eine lediglich allgemeine Erzählung in der Regel nicht ausreicht. Intime Fragen sind, wenn es um Sexualdelikte geht, daher leider nahezu nicht vermeidbar, da die Situation selbst schon mehr als nur privat ist. Es ist absolut klar, dass das eine massive Belastung für Opfer ist. Nicht nur ist das Erlebte für viele Opfer traumatisierend, sondern mitunter ist auch ihr eigenes Verhalten in der Tatsituation für sie nicht verständlich. Allein das Beantworten nüchterner, durchaus berechtigter rationaler Fragen ist herausfordernd. Es schwingt immer die Angst mit, nicht glaubwürdig zu erscheinen, weil der Tathergang selbst von den Opfern oft als surreal empfunden wird – das kann doch so nicht passiert sein, nicht mir, nicht in diesem Setting?
Nun geht es aber bei der neuerlichen Belastung nicht nur darum, dass das Erlebte nochmals – eventuell auch im Detail – berichtet werden muss, sondern um Fragen drumherum. Aber lassen Sie uns vorher noch ein paar grundlegende Punkte besprechen:
Als Opfer bin ich Zeugin
Als Opfer einer strafbaren Handlung ist Mara im Strafverfahren Zeugin. Um die Geschehnisse zu schildern und eine weitere strafrechtliche Beurteilung durch die Staatsanwaltschaften und Gerichte zu ermöglichen, ist eine Zeugenvernehmung bei der Polizei erforderlich. Darüber hinaus ist zumeist auch eine weitere Aussage vor Gericht unumgänglich. Dies kann noch im Ermittlungsverfahren vor einer Anklage der Fall sein oder, wenn von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben wird, im Zuge eines Verhandlungstermins.
Mara war also bei der Polizei und hat dort eine Aussage gemacht. Sie musste aufgrund des Vorfalls auch im Krankenhaus untersucht werden, dies nicht nur aus medizinischen Gründen, sondern zur Beweissicherung. Auch dort musste Mara, zwar nicht so detailliert wie bei der Polizei, erneut erzählen, was passiert ist. Unabhängig, ob Mara möchte oder nicht, sie muss sich immer wieder mit dem Vorfall befassen, artikulieren, was geschehen ist, und wird mit vielen Fragen unterschiedlichster Personen konfrontiert.
Frage ist nicht gleich Frage
Wie hat sich der Täter, die Täterin verhalten? Wie hat Mara sich als Opfer verhalten? Hatte sie Schmerzen oder Verletzungen? Wer wurde danach von Mara kontaktiert? All diese Fragen können notwendig sein, auch um zu eruieren, ob es weiterer Ermittlungen bedarf. Zum Beispiel, ob es zweckmäßig ist, Überwachungskameras ausfindig zu machen, welche zeigen könnten, wie der Täter Mara nachgegangen ist, Zeug:innen zu befragen oder Gutachten in Auftrag zu geben. So weit, so gut. Für Mara sind diese Fragen – nachvollziehbarerweise – belastend, doch darauf war sie gefasst. Aber Frage ist nicht gleich Frage – und da ist anzusetzen:
Es macht einen Unterschied, ob Mara – unabhängig, ob von Polizei, Gericht oder Familien- und Freundeskreis – gefragt wird "Wie hast du dich in dieser Situation verhalten?" oder man sie fragt "Warum hast du nicht …?". Vielen ist das vielleicht nicht bewusst und sie haben keine böse Absicht, Mara Vorwürfe zu machen, doch genau das ist es, was Mara neben der eigentlichen Frage auch hört und was dann zu einer zusätzlichen Belastung führt.
Der Ton macht die Musik
Wenn die Frage gegenüber Mara einmal ausgesprochen ist, dann ist sie gestellt und kann nicht mehr "ungehört" gemacht werden. Welche Fragen sind es, die Mara belasten: Warum hast du nicht "Nein" gesagt? Wieso hast du dich nicht gewehrt? Wieso warst du so angezogen? Bist du dir denn sicher, dass das so war?
Denn im Kopf von Mara stellen sich dann dazu gleich weitere Fragen "Bin ich schuld, dass das passiert ist?", "Hätte ich anders reagieren müssen?".
Für ein Strafverfahren kann es manchmal notwendig sein, auch solche Umstände zu erfragen, doch hier macht eben die Art der Frage den Unterschied – frage ich nach "Wie haben Sie sich verhalten?" oder "Warum haben Sie nicht …?". Können Sie es hören (genauer gesagt sehen): Es macht einen Unterschied, oder? Und nun stellen Sie sich vor, wie sich das erst für die betroffene Person anhören muss!
Das erneute "Opfer-Werden"
Bei dieser Thematik ist es unumgänglich dieses Phänomen und den Begriff der sekundären Viktimisierung zu erklären: Er beschreibt das erneute "Opfer-Werden", das nicht unmittelbar aus der Straftat selbst resultiert, sondern das beispielsweise durch unsensible Reaktionen und Verhaltensweisen anderer Personen hervorgerufen wird. Dabei geht es nicht nur um die Befragung vor Behörden im Strafverfahren, sondern oftmals auch um Fragen aus dem Familien- und Freundeskreis oder – bei medial präsenten Fällen – um Fragen aus der Gesellschaft und den Medien.
In der Praxis zeigt sich, dass verharmlosende, schuldverschiebende oder leugnende Reaktionen und Verhaltensweisen des sozialen Umfelds die bestehenden Belastungen verstärken und die Verarbeitung der Gewalterfahrungen erschweren können.
Mehr Verständnis gefordert
Juristisch gesehen ist es relevant zu wissen, ob das Opfer "Nein" gesagt hat, ob es in einem teilnahmslosen Zustand war oder der Täter, die Täterin Gewalt angewendet hat. Denn nur so kann zwischen den unterschiedlichen Delikten, die das Strafgesetzbuch bei der Verletzung der sexuellen Integrität und Selbstbestimmung vorsieht, unterschieden werden.
Unerheblich muss es aber sein, ob Mara einen kurzen Rock oder roten Lippenstift getragen hat. Denn das und vieles mehr ändert nichts an dem Umstand, was passiert ist und entschuldigt oder erklärt auch nicht die Missachtung der sexuellen Integrität durch den Täter, die Täterin.
Einerseits hat man keine Vorstellung davon, wie sich Mara in dieser Situation des sexualisierten Übergriffs gefühlt hat und demnach auch verhält, und was daher "natürlich" wäre. Mara zweifle andererseits sogar daran, dass man für eine erneute solche Situation Prognosen, wie sie sich verhalten würde, ableiten könne. So ist erkennbar, wie wichtig es ist, dass sensibel mit Fragen umgegangen und psychischen Reaktionen und Vorgängen bei Opfern von sexualisierter beziehungsweise jeglicher Art von Gewalt mehr Verständnis entgegengebracht wird.
Dieser Artikel ist (in ähnlicher Form) bei derStandard.at bereits am 23.01.2025 im Gastblog "Mit Recht gegen Gewalt" von Patricia Hofmann erschienen.
Disclaimer: Wir haben die Recherchen nach unserem besten Wissen und Gewissen durchgeführt, möchten aber klarstellen, dass es sich hierbei um keine Rechtsberatung handelt und wir deshalb auch keine Haftung übernehmen können. Bitte beachten Sie auch, dass die obige Darstellung nicht zwangsläufig auf die individuellen Situationen übertragbar ist. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden im Text hauptsächlich geschlechtsneutrale Formen verwendet. Selbstverständlich gelten sämtliche Personenbezeichnungen gleichermaßen für alle Geschlechter.
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